Marketing is about Values
Was würde man von einem Artikel über das Marketing und seine Zukunft erwarten? Vielfältige Trends und Rezepte, die man besetzen könnte: Methoden, Maßnahmen, Tools und Hypes vor allem rund um die Kommunikation. Jedenfalls versprechen diese Topics gern, das Marketing-Business zu revolutionieren und in völlig neue Dimensionen zu führen. Plötzlich ist alles automated und data driven, digitale Assets werden gemanaged, wir feiern direct-to-consumer als neue Idee und natürlich arbeiten wir cookieless, hybrid, augmented und social. Content ist auf einmal King, damit es weniger nach Werbung und mehr nach Unterhaltung klingt. Marke verliert vermeintlich an Wert zugunsten von Customer Experience. Und so könnte man jetzt noch seitenweise weitermachen. Meines Erachtens zu viel Lösung für zu wenig Problem.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist Marketing seit Beginn des 21. Jahrhunderts das Konzept einer ganzheitlichen, marktorientierten Unternehmensführung zur Befriedigung der Bedürfnisse und Erwartungen von Kunden und anderen Interessengruppen. Punkt. Alles andere ist Operationalisierung. Marketing ist also zum einen kein Sammelsurium an Kommunikations- oder Werbemethoden, Technologien oder Tools zur Auflösung einer komplexen, omnikanalen Welt. Es ist auch kein Rezept zur prozessualen Bearbeitung eines simpel abbildbaren Homo oeconomicus oder ein Lösungsangebot, das mit digitalen Tools oder KI-Algorithmen alles automatisch löst.

Zum anderen stellen die allermeisten der genannten und weitere Themen keine wirklich tiefgreifende Veränderung, sondern lediglich die Nutzung neuer Möglichkeiten, Technologien und Methoden für altbekannte, fast traditionelle Themen dar. Und manchmal ist es auch nur alter Wein in neuen Schläuchen.

Alt(bekannt)e Themen?
Im tiefsten Kern geht es bei gutem Marketing um fast vergessene, möglicherweise altmodisch klingende Themen und Werte. Sehr einfach gesagt geht es darum, Kunden und ihre Erwartungen, ihre Individualität, Motive, Emotionen und Bedarfe gut zu erkennen, relevante Lösungen individuell anbieten zu können und das immer und immer wieder, um Vertrauen aufzubauen und Kunden zu binden.

Das funktioniert zudem nicht eindimensional über reine Produkt- oder Dialogorientierung, sondern nur ganzheitlich. Marketing muss Menschen in Gänze verstehen – als Wesen mit Ratio und Emotio, als Individuen mit Grundbedürfnissen und auch als Teil in einer sozialen Gemeinschaft. Marketing muss das Unternehmen mit dem Auge des Kunden betrachten – beginnend vom Wertefundament oder Purpose über die Marktpositionierung und das Angebot bis zur gesamten Kundeninteraktion. Im tiefsten Kern ist viel mehr Bestehendes als Neues von Bedeutung für nachhaltigen Erfolg im Marketing.

Schwer das auszusprechen, denn die aktuelle soziale Normierung verbietet dies geradezu. Um auf der Welle zu surfen, muss man heute gegen alles vermeintlich Alte sein – zumindest aber tiefste Skepsis anzeigen. Wir sollen vergessen, was wir gelernt haben (unlearn what you have learned), unser (altes) Denken sei infiziert, Algorithmen scheinen unsere Intuition und Erfahrung vollständig überflüssig zu machen, agile Strukturen und Methoden plötzlich wie von Zauberhand inhaltliche Probleme wie im Schlaf aufzulösen. Augenhöhe wird verwechselt mit Gleichmacherei statt gegenseitigem Respekt. Und wenn nicht alles sofort auf Gen Z ausgerichtet wird, droht der Untergang des Abendlandes. Für sie – so der Rat mancher – könne man geflissentlich seine Werte über Bord werfen und einfach neu erfinden – so wie es halt gefällt. Alles Alte, Erlebte, Erreichte, Durchlebte, Gelernte, Geglaubte, Erarbeitete und Erfahrene gilt per se und automatisch als falsch, mindestens aber falscher als das neu Geglaubte.

Warum wird in schwarz-weiß Manier fernab von Maß und Mitte Wert(volles) pauschal negativiert, warum wurden aus Intuition negativ (falsche) Glaubenssätze, aus Haltung Starrsinn, warum aus Erfahrung und Urteilskompetenz konservatives Bewahrertum, aus Moral oder Ethik Moralisierung, aus Alter Lernunfähigkeit, aus Führung autoritäre Hierarchie und aus Kultur und Tradition Historismus? Woher kommt dieses Framing, welches eine sofortige Abkehr und Verwerflichkeit suggeriert? Wer sind Profiteure? Warum wundern wir uns, dass in dieser Gemengelage jetzt plötzlich alle händeringend einen tieferen Sinn oder Purpose suchen und Vertrauen zur neuen (alten) Währung wird? Und warum hinterfragen wir als Marketers die schwarz-weiß Frames nicht mindestens ebenso konsequent wie vermeintlich Überaltertes?

Unser Metier ist der Mensch und Kunde – mit Herkunft und Zukunft. Wir sind keine geschichtslosen Wesen ohne evolutionäre Erkenntnisse und kulturelles Werte-Fundament. Gerade tieferliegende Motive, Bedürfnisse und Werte prägen unsere Humanität – seit tausenden von Jahren. Die Grundsatzfrage: Wem würden Sie mehr vertrauen – jemandem mit oder ohne Fundament, Haltung, Kultur und Werten? Und genau hier setzt Marketing an. Marketing is about Values! Werte und Sinn aber entstehen durch Langfristigkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit, aus Erfahrungen und Kultur sowie gemeinsam getragener Identifikation. Werte stellen ethische Handlungsgrundsätze mit universellem Anspruch dar, sind Wegweiser und helfen bei Integration in die Gesellschaft. Richtig wertvoll werden Werte dann, wenn sie geteilt werden.

Das Fehlen gemeinsamer Werte und Ziele kann einer Beziehung wesentlich schaden. Auch der Beziehung von Unternehmen zu ihren Kunden. Es braucht Mut und Rückgrat, für diese nachhaltig einzustehen und sie gerade nicht leichtfertig vor lauter Neuerungsdiskussion über Bord zu werfen. Auch das gehört im Unternehmen zur Aufgabe des Marketings.

Evolution statt Disruption
Verstehen Sie mich nicht falsch – das ist kein Plädoyer für Rückschritt oder Stillstand. Wenn überhaupt – dann ein Plädoyer für (Rück)Besinnung und Augenmaß. Natürlich ist unser Denken und unsere Erfahrung „infiziert", natürlich müssen wir täglich neu(es) lernen und Altes hinterfragen. Natürlich brauchen wir Daten, neue Technologien oder Tools, natürlich entwickelt sich Führung weiter und natürlich ist die junge Generation (übrigens wie jede andere) von Bedeutung. Natürlich müssen wir Denkmuster und Methoden modernisieren und – um es auf den Punkt zu bringen – uns im Marketing evolutionär weiterentwickeln – oder flexibel-agil anpassen, manchmal auch neu erfinden. Dauerhaft.

Kern der Evolution ist aber gerade auch, nicht im luftleeren Raum ohne Vergangenheit oder Erfahrungen zu agieren. Man stelle sich „forget what you have learned" für die Evolution der Menschheit vor – wir befänden uns noch immer in der Steinzeit. Und bevor jetzt der Ruf laut wird: aber alles ist doch heute disruptiv – nein! Unser Menschsein ist nicht disruptiv. Evolution ist eine Balance aus Beständigem und Neuem. Erneuerung wiederum braucht Kompetenz, Intuition und Erfahrung. Natürlich entwickeln sich dabei auch Wertesysteme weiter – zumeist aber eher wie Zwiebeln, es kommen neue Werteschichten auf der individuellen Mikro- oder sozialen Makroebene dazu. Nachhaltigkeit ist ein Beispiel hierfür. Wandel, Metamorphose und Erneuerung sind essenziell – quasi als evolutionäres Grundprinzip und Überlebensgarant von Unternehmen und Menschheit. Kultur, Erfahrung und ein stabiles beständiges Wertefundament aber ebenso. Das heißt Ambiguitätstoleranz, das Zulassen von Neuem und Altem, es heißt damit aber auch, Neues genauso zu hinterfragen wie Altes. Unternehmen und Marken müssen in die Zeit passen, aber mit Haltung und ohne ihr Fähnchen in den schnell drehenden Wind zu hängen. Reines Profitstreben reicht zur Daseinsberechtigung nicht aus – letztlich wahrscheinlich noch nie. Unternehmen und Marken brauchen eine langfristige Vision und Ausrichtung inklusive eines erkennbaren Beitrags für Individuum und Gesellschaft.

Renaissance humaner Werte
In einem Marketing 3.0. müssen wir den Kunden somit sich weiterentwickeln lassen zu dem, was er schon immer war – zu einem echten Menschen aus Verstand und Gefühlen in einer humanen Gesellschaft. Weder reicht die frühere Rolle des Marketings als produktorientierte Absatzwirtschaft noch die Rolle eines individualistischen Kundenzufriedenstellers. Die Rolle des Marketing heute fokussiert sich ganzheitlich auf den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Werten – funktional, emotional, sozial – ja fast spirituell. Im Zentrum Werte – Vision und Mission. Teil der Gesellschaft sein, Verantwortung übernehmen als soziales solidarisches Projekt, nicht nur nehmen, auch etwas zurückgeben. Und ja – genau das ist eine Renaissance von zeitweise achtlos vergessenen, traditionellen humanen Themen.

Dabei stehen Wirtschaftlichkeit und Erfüllung der Bedürfnisse – ökonomisches und ethisches Handeln – nicht in Widerspruch. Materielle betriebliche Wertschöpfung und Schaffung ideeller Werte gehen im Einklang. Das genossenschaftliche Prinzip ist hier sehr nahe dran und nicht umsonst UNESCO-Kulturerbe. Für das Marketing heißt das, Verantwortung zu übernehmen für den Menschen in seinen Facetten – für eine Welt der Grautöne und Ambidextrien, geprägt von Pragmatismus statt Aktionismus, einer Balance zwischen Stabilität, Halt(ung) und Transformation.

Renaissance bedeutet dabei nicht Rückschritt, sondern Rethinking des Wertekanons und sinnhaften, erlebbaren Purpose. Dieser ist kein Fähnchen im Wind, kann auch nicht jederzeit neu erfunden werden, hat feste Verankerung und Bestand, weil er Wert hat. Wir sind als Marketers gefragt, die humane Ganzheitlichkeit des Lebens ins Zentrum unserer Überlegungen zu stellen und Entscheidungen danach zu bemessen. Heißt auch: Antreten gegen digitale, technologische oder methodische Obsessionen. Eintreten für Sinnhaftigkeit vor Ideologie. Im Zentrum steht die Frage, was wirklich Bedeutung für unser Menschsein hat, und wie ein humanes Evolutionsmodell aussieht, in das wir die neuen Möglichkeiten sinnhaft einbetten. Modernes Marketing is about Values – es bedeutet die Ankunft (oder Rückkehr) im Zeitalter der Humanität.

Autorin:


Anja Stolz, Bereichsleiterin Marketing, R+V, Mitglied des Vorstands, R+V Direktversicherung

Dieser Beitrag ist im neuen Handelsblatt Journal Marketing zum Thema „It's all about trust" erschienen. Dieses Journal können Sie sich als PDF oder e-Paper kostenlos herunterladen.

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