Die Via Dolorosa zur datengetriebenen Kundeninteraktion
Der Marketing Tech Monitor 2022 unter streicht mit der Befragung von mehr als 1.500 Marketingleitern/-vorständen in DACH, dass Covid-19 als Brandbeschleuniger für die weitergehende Digitalisierung der Kundenschnittstellen dient. Das Credo: aus jeder Kundeninteraktion (datenschutzkonform) Datenpunkte extrahieren, um diese dann nachfolgend zu analysieren und zur Aktivierung weitergehender Kundeninteraktionen einzusetzen.

Die Veränderungsgeschwindigkeit nimmt weiter zu und die cross-funktionale Kollaboration in den Unter nehmen muss der in der Politik gerne strapazierten „Alternativlosigkeit" folgen. Nachdem jahrzehntelang der Monstranz einer massenhaft individualisierten Kundeninteraktion gefolgt wurde, befinden wir uns jetzt in einer Situation, in der statt hehrer Powerpoint-getriebener Plattitüden der Ruf nach professionellen Projektstrukturen mit ausreichender inhaltlicher bzw. konzeptioneller Tiefe ertönt, um die Versprechungen eines Data-Driven Marketing mit Realtime-Kundeninteraktionen auch mit Leben zu füllen.

Jedoch: In aktuellen Studien geben nur rund 11 % der Marketingleiter und -vorstände an, die Digitalisierung im Marketing bereits erfolgreich gemeistert zu haben. Die größte Herausforderung: das Orchester von MarTech, Know-how, Prozessen und Daten zu einer Symphonie zu vereinen. Die Moralliturgie der meisten Fachmedien feiert die Sonntagsreden der Technik-Anbieter, meist ohne diese weitergehend zu hinterfragen. Wie in den Anfangsjahren des Goldrausches am Klondike River sind die wertvollen Data Claims in den meisten Unternehmen auch heute (wieder) nur unzureichend gesichert – das reicht von Themen wie Betrug beim Ausspielen von Anzeigen (Ad Fraud) über nicht genutzte „allwissende Datenmüllhalden" bis zu einer nur unzureichenden Aktivierung etc., während gleichzeitig die GAFA-Datenschürfer (aka Google, Amazon, Facebook oder Apple) Champagner im Salon schlürfen.

Schöne neue Welt(en)?
Brave New World. Die Vielzahl an Workshops und Projekten der letzten Jahre zeigt, dass es oftmals an Grund legendem wie einer gemeinsamen Sprache (genutzten Terminologien) und Zielbildern sowie Methoden zur Erarbeitung des jeweiligen Kontexts fehlt. Etwa: „Welches Granularitätslevel ist für Anforderungen erforderlich? Was ist unter einer Customer Data Plattform zu verstehen und in welchem Anwendungskontext hat diese für unser Unternehmen wirklich Sinn?"
Nach wie vor werden vielfach inhaltsleere Diskussionen um einzelne Tools oder auch Customer Experience als Feenstaub innerhalb der Diskussion zum Data-Driven Marketing aufgewirbelt. Ein Strom neuer Begrifflichkeiten (Syntax) prallt hart auf Anwender mit ganz unterschiedlichen inhaltlichen Begriffsauffassungen (Semantik). Befeuert wird das durch die Kombination aus einer weiterwachsenden Anzahl an IT-Anbietern und dem steten Streben dieser Anbieter, sich möglichst auf Basis vieler neuer Begriffe (Akronyme) und Angebote unique im Markt positionieren zu wollen. Statt Klarheit zu schaffen, er hält so die Verwirrung eher weiteren Treibstoff.

Das Prekäre: im Gegensatz zu früheren, eher zeitstabilen Projekten im Umfeld von Customer Experience Management werden sich die Anforderungen und damit auch die IT-Anwendungen (MarTech Stacks) permanent weiterentwickeln. Neue Kanäle und Interaktionsmechanismen, neue (rechtliche) Rahmenbedingungen (Datenschutz), ein „Mehr" an Automatisierung und Analytics sorgen dafür, dass probate Methoden und Tools von gestern bereits einen Tag später veraltet sein können (und werden). Während die grundsätzliche Architektur und das Datenmodell (hoffentlich) erhalten bleiben, kommen stetig neue Kanäle, Interaktionsszenarien und Peripherie-Anwendungen hinzu. Ein Ende ist kaum absehbar.

Eine Lösung erfordert:

  • inhaltlichen/konzeptionellen Tiefgang in den Umsetzungsprojekten,
  • den Einsatz erfahrener Projektleiter:innen,
  • die Ausrichtung an einem gemeinsamen, konsistenten Zielbild – am besten erarbeitet mit Hilfe eines Benchmarkings mit anderen Unternehmen im Markt bzw. im eigenen Industriesegment
  • unter Einbeziehung verschiedenartigster Gruppierungen in einer Organisation (Change)
  • und eindeutigen Zielvorgaben (Messgrößen, KPIs)

Es geht damit nicht um einzelne IT-Tools, sondern die Ableitung sinnvoller, messbarer Anwendungsszenarien aus der Strategie bis auf die Ebene von Prozessen und IT-Systemen. Die plattitüdenhaften Bergpredigten zum cross-funktionalen Teamwork müssen hier zwangsweise ihren Lackmustest absolvieren.

Autor:

Dr. Ralf E. Strauß, Präsident Deutscher Marketing Verband, Chairman of the Board, European Marketing Confederation, Managing Partner, Marketing Tech Lab GmbH

Dieser Beitrag ist im neuen Handelsblatt Journal Marketing zum Thema „It's all about trust" erschienen. Dieses Journal können Sie sich als PDF oder e-Paper kostenlos herunterladen.

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